Qualitätsoffensive Ganztag

Im Gespräch mit dem Thüringer Lehrerverband

28. Juni 2019

Multiprofessionelle Teams können Synergien und zeitliche Ressourcen schaffen

Im Interview mit dem tlv – Thüringer Lehrerverband sprach Dr. Köster-Ehling, Vorstand der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, über aktuelle Herausforderungen an Schulen, die Arbeit im Ganztag und multiprofessionelle Teams.

 

Zunächst einmal sind die Basis für eine gelungene multiprofessionelle Kooperation die Bereitschaft aller Mitarbeitenden zur Zusammenarbeit und eine gemeinsame pädagogische Haltung. Es braucht ein gemeinsames Bildungsverständnis und ein abgestimmtes didaktisches Konzept – das wird oft als selbstverständlich angesehen. Es sollte aber eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema im gesamten Team stattfinden, denn in der Praxis zeigt sich, dass ein solches Verständnis in der Regel erst einmal entwickelt werden muss. Verständigen sich alle beteiligten Akteure, d. h. Leitungen, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Schulbegleitungen, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen etc., so tun sich plötzlich neue Möglichkeiten der Kooperation und der Besetzung im Sinne einer multiprofessionellen Teamarbeit auf. Um aufIhre Frage zurückzukommen: Ich halte es für wichtig, den Schulen mehr flexible Eigenverantwortung, das heißt Personalverantwortung und Ressourcenverantwortung, zuzugestehen. Bestmöglich ist jede Klasse oder Lerngruppe mit zwei Personen ausgestattet, zum Beispiel einer Sonderpädagogischen Fachkraft und einer Lehrkraft.

Diese Frage kann langfristig nur mit politischen Beschlüssen gelöst werden. Dazu gehören andere Personalschlüssel und – wie bereits erwähnt – die Möglichkeit, dass Schulen Personal selbstständig einstellen können. Ressourcen der Jugendhilfe und der Schule sollten zusammengeführt werden, es braucht Sozialarbeiter an jeder Schule und einen gut aufgestellten schulpsychologischen Dienst für Eltern, Kinder und Lehrer. Im gut rhythmisierten Ganztag sollten sich die schulpädagogischen und die sozialpädagogischen Ansätze bestenfalls ergänzen. Kinder können so ganzheitlicher in ihrer Entwicklung und ihrem Lernen begleitet werden und es entsteht mehr Raum, um von Kind zu Kind zu entscheiden, auf welche Art und Weise das soziale, emotionale, demokratische und fachliche Lernen gefördert werden kann. Dazu gehört jedoch auch, mehr Raum und Zeit für Rückzug, Erholung, Entspannung und das freie Spiel mit Gleichaltrigen zu schaffen, die Kinder also nicht permanent zu beschulen oder mit Angeboten zu überfrachten.

Wir beobachten seit 2003 einerseits eine starke quantitative Entwicklung von Ganztagsgrundschulen. Aktuell sind laut dem Bildungsbericht Ganztagsschule NRW von 2018 bereits 93 Prozent aller Grundschulen in NRW ganztägig organisiert. Andererseits korrespondiert diese Entwicklung auch nach 15 Jahren nicht oder zumindest nicht flächendeckend mit einer Verbesserung der Qualität im Ganztag. Nach wie vor ist der ganze Tag nur selten sinnvoll rhythmisiert, ein gemeinsames Bildungsverständnis von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften ist nicht selbstverständlich und die Steuerung der Schulen liegt in verschiedenen Händen, wodurch eine gemeinsame Arbeit erschwert wird. Das Ziel der „Qualitätsoffensive Ganztag“ ist die Entwicklung eines Bewusstseins des gemeinsamen Handelns, des Vertrauens, der gegenseitigen Anerkennung, der geplanten Zeit und vereinbarter Kommunikationsstrukturen. Dabei können verschiedene Schwerpunkte berücksichtigt werden: eine gemeinsame Leitbildentwicklung, die gemeinsame Förderung aller Kinder oder eine flexible, multifunktionale und gemeinsame Raumnutzung. Die Vision ist eine inklusive ganztägige Bildungseinrichtung, die rhythmisiert und multiprofessionell organisiert ist.

Im Rahmen der „Qualitätsoffensive Ganztag“ erhalten ausgewählte Ganztagsgrundschulen durch externe Prozessbegleitungen über zwei bis drei Jahre eine Beratung und Begleitung in ihrer Organisationsentwicklung, die die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft finanziert und unterstützt. Nachdem wir 2015 erstmals an fünf Schulen in einer Region gestartet sind, hat sich das Projekt inzwischen auf 16 Schulen in drei Kommunen in NRW erweitert.
Die individuellen Bedarfe der Schulen werden in Interviews mit allen Akteuren ermittelt: Woran wollen sie arbeiten, welche Ziele setzen sie sich selbst? Daraus ergeben sich die Themenfelder, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule bearbeiten und angehen möchten. Begleitet wird der Prozess durch eine Steuergruppe auf kommunaler Ebene, in der alle Akteursgruppen vertreten sind. Darüber hinaus sind alle Schulen der Regionen eingeladen, an ergänzenden „interkommunalen“ Treffen teilzunehmen. Mit der Reihe „OGS-Akademie“ und dem Lernreiseprogramm „OGS on Tour“ wollen wir den Projekt-Schulen außerdem anhand von Best-Practice-Beispielen Inspirationen für deneigenen Standort bieten, neue Perspektiven eröffnen und den Austausch untereinander fördern. Denn häufig ist dafür im Schulalltag zu wenig Zeit.

Inklusion ist aktuell eine von vielen Anforderungen, auf die Schulen als lernende Organisationen im 21. Jahrhundert reagieren müssen. Weitere Herausforderungen sind Digitalisierung, bildungspolitisch bedingte Umstrukturierungen und Schul-Zusammenlegungen sowie der nach wie vor beträchtliche Sanierungsstau und die demografische Entwicklung. Inklusion kann nur dann gelingen, wenn auf die besonderen und unterschiedlichen Lernbedürfnisse der Lernenden eingegangen wird. Ein gemeinsames Bildungsverständnis und eine ganztägige Präsenz der multiprofessionellen Teams können Synergien und zeitliche Ressourcen schaffen, inklusive Lernformate und eine flexible Raumnutzung tragen ebenfalls zum Gelingen bei. Hier liegen meiner Ansicht nach mögliche Qualitätshebel für die sinnvolle Weiterentwicklung von Schule hin zu einer inklusiven Bildungseinrichtung. Insgesamt betrachtet sollte die Politik die Mehrgliedrigkeit ihrer Schulsysteme auf den Prüfstand stellen, und zwar mit dem Ziel, ein längeres gemeinsames Lernen zu erzeugen. Die Schülerinnen und Schüler sollten nicht schon nach der vierten Klasse nach Leistungen neu aufgeteilt und immer weiter mit standardisiertem Unterricht beschult werden. Wir brauchen eine stärkere Individualisierung des Lernens in Schule.

Das ist richtig, auch die räumliche Organisation von Schulen muss heute anders gedacht werden. Der Umbau, Erweiterungs- und Neubau von Schulgebäuden ist gegenwärtig eine der wichtigsten öffentlichen Bauaufgaben. Die klassenzimmerzentrierte Flurschule entspricht nicht mehr den pädagogischen und funktionalen Anforderungen an das Lernen im 21. Jahrhundert. Darum können anstehende Baumaßnahmen eine Chance sein, das pädagogische Profil weiterzuentwickeln und daraus konkrete Anforderungen für die räumliche Umsetzung zu formulieren. Denn Lernumgebungen müssen in der Lage sein, ganz unterschiedliche Nutzungsanforderungen zu erfüllen und den Begabungen und Bedürfnissen aller Kinder und Jugendlichen Rechnung zu tragen.

Im Alltag lässt sich das umsetzen, wenn alle Mitarbeitenden sich auf ein gemeinsames Arbeitszeitmodell einigen. Voraussetzung für die multiprofessionelle Zusammenarbeit sind außerdem feste Zeitfenster für die Vor- und Nachbereitung, für individuelle Fallbesprechungen und die Planung und Evaluation von Fördermaßnahmen, die verbindlich in den schulischen Abläufen verankert werden müssen.

 

Das Interview ist erscheint in: Thüringer Schule 3/2019 – Zeitschrift des Thüringer Lehrerverbands e.V.