Inklusive ganztägige Bildung

Im Interview mit ganztagsschulen.org

13. März 2019

Über inklusive ganztägige Bildung und das Projekt „Qualitätsoffensive Ganztag“ im Rhein-Erft-Kreis und den Städten Köln und Bonn

Herr Dr. Köster-Ehling, welches Ziel verfolgen Sie mit der „Qualitätsoffensive Ganztag“?

Seit etwa 15 Jahren gibt es die Offene Ganztagsschule im Primarbereich, die OGS, hier bei uns in Nordrhein-Westfalen. Das Land hat damals gezielt ein Trägermodell gewählt und die Schulen mit der Jugendhilfe als Träger des Ganztags zusammengebracht. Neben den positiven Entwicklungen wie den zusätzlichen Ressourcen gibt es im offenen Ganztag natürlich auch Stolpersteine. Unser Ziel ist die Entwicklung eines gemeinsamen Bewusstseins der Lehrerinnen und Lehrer sowie der außerschulischen pädagogischen Fachkräfte in den Ganztagsgrundschulen. Dabei geht es um gemeinsames Handeln, Vertrauen, gegenseitige Anerkennung, geplante Zeit und vereinbarte Kommunikationsstrukturen. Uns interessiert auch die Frage, wie bei diesem Modell gesteuert und geleitet wird. Wer macht was am Tag? Wie wirkt dieses Trägerkonzept, und welche Entwicklung hat Schule genommen, was hat sich geändert? Dazu nehmen wir mit den Beteiligten vor Ort die Strukturen, Abläufe, Prozesse, Steuerung und Organisation des Ganztags in den Blick.

Wer beteiligt sich konkret an der „Qualitätsoffensive“?

Wir haben mit der Qualitätsoffensive 2015 bewusst in einem Landkreis begonnen, im Rhein-Erft-Kreis bei Köln. Ein Organisationsentwickler hat die fünf ausgewählten Ganztagsgrundschulen seitdem beraten und begleitet. In Interviews mit den Schulleitungen und den pädagogischen Leitungen der OGS sind die Themen und Bedarfe ermittelt worden. Seitdem bestimmen ihre Bedarfe – woran sie arbeiten wollen, welche Ziele sie sich selbst setzen - die weitere Prozessbegleitung, und die Themen fließen auch in die Veranstaltungen ein. Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft finanziert die Prozessbegleitung in den Schulen über drei Jahre. Inzwischen haben wir die Qualitätsoffensive auf die Städte Köln und Bonn ausgeweitet.

Wie organisieren Sie das Projekt?

Eine Steuergruppe leitet das Projekt, die sich aus den Akteuren vor Ort zusammensetzt: Zu ihr gehören die Schulleitungen, die Jugendhilfe, der Träger, der Landschaftsverband Rheinland, das Schulamt, das Amt für Schulentwicklung und die Stiftung. Bei den Veranstaltungen vor Ort wie zum Beispiel im Rhein-Erft-Kreis zum Thema „Gemeinsame Beratung für Eltern“ laden wir alle Grundschulen aus dem Kreis ein, nicht nur die Projektschulen. Dazu stellen wir als Stiftung die Expertise für den Input, und alle Akteure sind zum Austausch miteinander aufgefordert. Im Schuljahr finden in der Regel zwei Veranstaltungen mit allen Akteursgruppen des Ganztags statt.

Wie haben Sie die beteiligten Schulen gefunden oder ausgewählt?

Wenn uns die Städte und Gemeinden ansprechen, dass Sie Interesse an der "Qualitätsoffensive Ganztag" haben, bilden wir gemeinsam zunächst mit der Stadt oder der Gemeinde die Steuergruppe und laden alle offenen Ganztagsgrundschulen zu einer Informationsveranstaltung ein. In einer Großstadt wie Köln haben wir uns auf einen Schulamtsbezirk konzentriert. Die Schulen können sich dann gemeinsam mit ihren Trägern des Ganztags bei der Stadt bewerben. Die Stadt wählt in Abstimmung mit der ganzen Steuergruppe fünf Schulen aus. In Köln wurden zum Beispiel bewusst Schulen aus unterschiedlichen Stadtteilen und mit unterschiedlichen Trägern ausgewählt. In Bonn haben wir wiederum die ganze Stadt einbezogen, und hier wird aus jedem der sechs Schulamtsbezirke jeweils eine Schule teilnehmen.

Welche Erfahrungen haben Sie in den vier Jahren mit dem Qualitätszirkel im Rhein-Erft-Kreis gemacht?

Köster-Ehling: Als wir dort angefangen haben, war der Stand in den einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. Es gab Städte, die sich bisher mit dem Thema „Qualitätsentwicklung im Ganztag“ wenig befasst hatten. Einige verzeichneten eine sehr geringe Schülerteilnahme am offenen Ganztag. Mittlerweile haben wir alle Kommunen für den Qualitätszirkel gewinnen können. Der hat sich enorm weiterentwickelt, er ist fast so etwas wie eine „Schaltzentrale“ in Sachen OGS geworden. Die beteiligten Personen haben sich in diesem moderativen Prozess, in dem sie die Themen selbst entwickeln können, mitgenommen gefühlt. Hier ist kein Rezeptgeber gekommen, der gesagt hat, dass das so oder so zu laufen habe.

Welche Themen bewegen denn die Beteiligten vor Ort besonders?

Es gibt Punkte, die immer wieder auftauchen: zum Beispiel die Zusammenarbeit der verschiedenen pädagogischen Fachkräfte – wir nennen es „multiprofessionelle Teamarbeit“. Das betrifft sowohl die Ebene der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch die Leitungsebene. Dahinter verbergen sich Fragen nach der Gestaltung des Tages, vor allem der Rhythmisierung. Gefragt wird auch, wie Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte konkret den ganzen Tag gestalten können, wohl wissend, dass das weitere pädagogische Personal anders als die Lehrerinnen und Lehrer in der Stundenzahl immer zu gering ausgestattet ist.

Themen sind auch gemeinsame Elterngespräche und -beratungen. Dann interessiert häufig die Raumfrage: Wie gestaltet man die ganztägige Bildung räumlich in den Schulen? Daneben gibt es aber auch sehr individuelle Themen der einzelnen Schule. Die Schulen liegen ja an unterschiedlichen Standorten in einer Gemeinde und sind durchaus unterschiedlich ausgestattet. Die Erkenntnisse, die wir aus den einzelnen Prozessen gewinnen, spiegeln wir ständig an alle Schulen zurück.

Sie sprechen die Schwierigkeit gemeinsamer Veranstaltungen aus Zeitgründen an. Wie bekommen Sie das hin?

Ich habe lange als Lehrer und Schulleiter gearbeitet, und leider scheitert die Zusammenarbeit tatsächlich oft an dieser Ressourcenfrage. Wir stellen im Bewerbungsprozess von Anfang an klar, dass in den Schulen solche Zeiten für den Austausch geschaffen werden müssen. Denn in der systemischen Entwicklung einer Organisation braucht es solche Zeitfenster, ansonsten kann man sich nicht weiterentwickeln. Wir versuchen den Austausch der Qualitätszirkel so in den Tag zu integrieren, dass es keinen Ausfall des Unterrichts und der OGS-Angebote gibt. Aber es bleibt eine Schwierigkeit, wegen der immer noch knappen personellen Ausstattung im System. Um Prozess- und Organisationsentwicklung im laufenden Schulalltag  leisten zu können, braucht es auch die Unterstützung von Politik und kommunaler Verwaltung.

Eine Herausforderung ist oft immer noch die Kooperation von Lehrkräften und Erzieherinnen und Erziehern, auch nach 15 Jahren OGS. Woran liegt das?

Aus meiner Sicht ist da vor allem die wechselseitig Unkenntnis der Berufsgruppen zu nennen, ihrer jeweiligen Aufgaben und des professionellen Selbstverständnisses. Lehrkräfte sehen sich für den Unterricht zuständig, und am Nachmittag sollen die Pädagogischen Fachkräfte ein bisschen betreuen und mit den Schülerinnen und Schülern spielen. Diese Bilder tauchen oft auf. Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter wissen oft nichts über die fachliche Qualikation der anderen.

In dieser Frage haben wir zusammen mit der Technischen Hochschule Köln, dem Berufskolleg Michaelshoven und der Universität zu Köln ein Seminar-Modell zur multiprofessionellen Teamarbeit mit integriertem Praktikum an offenen Ganztagsgrundschulen entwickelt: Das bietet schon mal eine gute Basis, um die Unkenntnis und auch bestehende Vorurteile zu durchbrechen. Es geht darum, ein gemeinsames Bildungsverständnis zu entwickeln.

Wir schauen da auch auf die Rahmenbedingungen. Die Träger des Ganztags und die Grundschulen sind rechtlich getrennte Systeme. Die Multiprofessionalität nimmt zu, aber das System verändert sich nicht. Eine Überlegung, die sich daraus entwickelt, könnte lauten, den Schulen mehr flexible Eigenverantwortung, das heißt Personalverantwortung und Ressourcenverantwortung, zuzugestehen. Das ist eine Vision. Im europäischen Ausland ist das Schulsystem in der Mehrheit regionalisiert und die Selbstständigkeit der Schulen viel größer.

Sie bieten im Rahmen der Qualitätsoffensive auch „OGS on tour“ an. Was ist das?

„OGS on tour“ ist unser Lernreise-Programm. Wir haben sechs Best-Practice-Schulen ausgesucht, vier in Nordrhein-Westfalen und zwei in Bremen mit einem besonderen Raumkonzept, die von den Projektteilnehmenden besucht werden können. Vor Ort hinzuschauen und sich mit den Akteuren direkt auszutauschen, bringt immer viel mehr, als wenn ich einen Referenten vor eine Gruppe stelle, der was erzählt. Und dann können sich natürlich auch neue Netzwerke entwickeln. Das ist auch wieder ein solcher Moment des Zeitfindens miteinander.

Am 3. April findet in Bonn die zweite OGS-Akademie statt. Was verbirgt sich dahinter?

Zur OGS-Akademie laden wir Expertinnen und Experten ein und tauschen uns über aktuelle Themen zeitgemäßer Bildung aus. Das Thema der ersten OGS-Akademie im September 2018 in Bonn, an der Vertreterinnen und Vertreter aus Schule, Jugendhilfe, Verwaltung, Ausbildung und Forschung teilnahmen, waren die Global Goals. Es gab eine Mischung aus Theorie und Praxis, und gute Beispiele wurden vorgestellt. Das ist sehr gut angekommen. Viele Schulen haben danach angefragt, ob wir das nicht auch bei ihnen vor Ort nochmal organisieren könnten. Auf der zweiten OGS-Akademie wird es nun um „Multiprofessionelle Teamarbeit im Ganztag“ gehen. Da werden alle Projektbeteiligten aus Bonn, Köln und dem Rhein-Erft-Kreis zusammenkommen. Die OGS-Akademie ist ein interessantes Austauschforum, gerade auch für die Verwaltung.

 

Das Gespräch führte Ralf Augsburg für ganztagsschulen.org: Qualität im Ganztag: „Zeiten für den Austausch schaffen“ (13.03.2019). In: https://www.ganztagsschulen.org/de/32184.php