Bildung im digitalen Wandel

Weit über den Bildschirm hinaus: Digitales ist ganzheitliches Lernen

15. April 2019

Die Digitalisierung an Schulen braucht eine neue Pädagogik

Von Olaf Köster-Ehling und Richard Heinen

Die Debatten zum digitalen Lernen drehen sich derzeit um technologische Ausstattungen und die Frage, ob Pflichtfächer wie Informatik oder Medienkunde einzuführen sind. Dabei wird das eigentliche Problem übersehen: Wie können wir Kinder und Jugendliche zu einem selbstbestimmten und sicheren Umgang mit den digitalen Medien befähigen – nicht nur in der Schule?

Die Digitalisierung erhöht den Reformdruck auf Schulen

Die Digitalisierung wird von vielen als Problem, Hürde, Herausforderung gesehen. Dabei wird die Diskussion um die Einführung digitaler Unterrichtsmedien von Aspekten der passenden Geräte und additiver Technologie bestimmt sowie von Stimmen, die Informatik oder Medienkunde zu neuen Pflichtfächern erklären möchten oder das Thema in den Unterricht der bestehenden Fächer wegdelegieren. Diese Sichtweise aber verkürzt die eigentliche Frage. Zu debattieren ist, wie die Schüler/innen zu einem guten, sinnvollen, sicheren, kreativen und selbstbestimmten Umgang mit den digitalen Medien befähigt werden können. Sie müssen nach ihrem Schulabschluss in einer Welt leben und arbeiten, die zusehend digitalisierter und mediatisierter ist, in der Strukturen und Zusammenhänge immer komplexer werden und in der die globale Weltgesellschaft vor zahlreichen Herausforderungen steht. Wie können wir die Lernenden von heute auf diese neue Welt von morgen vorbereiten?
Indem wir hochwertige Bildung bereitstellen und gleichberechtigte Möglichkeiten für alle schaffen, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die sie individuell zur Gestaltung ihres Lebens benötigen. Dabei ist die Digitalisierung des Lernens nicht ein weiteres Problem, sondern ein wichtiges Werkzeug, um Schule neu zu gestalten. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr allein das klassische Ideal von maximalem Wissenserwerb, denn: Wissen veraltet immer schneller – und auch Wissen, das eine hohe Persistenz aufweist, muss immer wieder in neue Kontexte eingebettet werden. In der Vergangenheit wurde Wissen von Schulen, Bibliotheken und Universitäten zur Verfügung gestellt, heute ist es über das Internet für alle – auch alle Lernenden in Schulen – abrufbar. Und angesichts des Übermaßes an digital verfügbarem Wissen und der multiplen digitalen Möglichkeiten der Kommunikation sollte das Augenmerk auf die Schulung der kontextadäquaten Auswahl und der Anwendung problemspezifisch relevanter Wissensinhalte gerichtet werden. Das Ziel ist es, jungen Menschen zu ermöglichen, handlungs- und entscheidungsfähig, kreativ und sicher in dem Erwerb, der Nutzung und Präsentation von Wissensinhalten zu sein.

Hier sind umfassende Methodenkenntnisse vonnöten sowie ausgeprägte Sozialkompetenzen, die die Lernenden befähigen, dauerhaft mit Veränderungen umzugehen. Nicht nur die Zunahme von Teamwork-Strukturen in der Arbeitswelt verlangt vom Einzelnen gute kommunikative Fähigkeiten, Kooperations- und Kompromissbereitschaft, Toleranz und das Vermögen, sich kritisch, differenziert und selbstreflexiv auch mit dem eigenen Tun auseinanderzusetzen. Daneben wird eine zunehmende Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Kreativität erforderlich. Neben Faktenwissen gilt es also, im Unterricht verstärkt praxisorientierte Handlungs- und Sozialkompetenzen zu fördern, Anlässe und Gelegenheiten schaffen, sich kontextbezogen Wissen anzueignen, es zu bearbeiten, zu präsentieren und es – gemeinsam mit anderen – zur Lösung realer Probleme zu nutzen. Diese neuen Lerninhalte erhöhen den Veränderungsdruck auf Schule.

Selbstbestimmte Handlungsfähigkeit in der digitalen Welt

Anders als in der öffentlichen Diskussion oft verlautbar, geht es bei einer curricularen Neugestaltung nicht um eine Vernachlässigung von Wissenserwerb. Dieser ist und bleibt eine basale Grundlage für den Aufbau jeglicher Kompetenzen. Fadel, Bialik und Trilling führen in ihrem »Four-Dimensional Education. The Competencies Learners Need To Succeed« (Fadel/Bialik/Trilling 2015) vor, an welchen Leitlinien und Kriterien sich eine taugliche Didaktik im 21. Jahrhundert zu orientieren hat. Grundstein ihres Entwurfs sind vier Dimensionen umfassender Bildung:
Die erste Dimension umfasst den Bereich des Wissens, hier ist zu prüfen, welche Wissensinhalte für das 21. Jahrhundert wirklich relevant sind. Angesichts des immer schnelleren Verfalls von Wissen ist die Annahme eines zeitlich überdauernden, perfekten Kanons illusorisch. Vielmehr sollten jene Inhalte, die für das spätere (Arbeits-)Leben der Schüler/innen wichtig sind, möglichst klar identifiziert und in den Unterricht aufgenommen werden. Dies darf jedoch nicht dazu führen, die Lehrpläne zusätzlich zu befrachten. Es geht vielmehr darum, sie flexibler zu gestalten und zur Integration von Freiräumen für kontext- und praxisbezogenes Lernen zu verschlanken. Das Lernen muss sich an den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Lernenden ausrichten, also sollten auch Themen wie Robotik, Entrepreneurship, Programmiertechniken und Medienkompetenz o. ä. in die Lehrpläne Einlass finden. Dabei sollte der zusätzliche Kompetenzerwerb die bestehenden Curricula nicht weiter mit Inhaltswissen belasten. Vielmehr sollte das Ziel eine Entschlackung der vorgegebenen Lernpläne sein, die Schulen mehr Flexibilität gibt einen handlungsorientierten Kompetenzerwerb zu gestalten.

Im Mittelpunkt der zweiten Dimension stehen vier Kompetenzen, die auf den Umgang mit Wissensinhalten ausgerichtet sind: Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration – oder besser Kooperation (https://de.wikipedia.org/wiki/4K-Modell_des_Lernens, 23.01.2019). Die Forderung nach Kreativität bezieht sich u. a. auf das Erschließen und die Analyse von Problemen, die Suche nach Lösungen und kontextübergreifenden Zusammenhängen. Kritisches Denken und Kritikfähigkeit sind dort gefragt, wo es um die Auswahl praxis- und problemrelevanten Wissens geht wie auch um die Überprüfung gewonnener Erkenntnisse und Lösungswege. Immens wichtig ist der kommunikative Austausch mit anderen – über die Problemstellung selbst, mögliche Lösungen und Fehler wie auch über eine verständliche Präsentation der Arbeitsergebnisse. Und letztlich sind Arbeitsaufgaben und Probleme zunehmend so komplex, dass sie sich nur in Teams bewältigen lassen, sodass das Vermögen zur Kooperation mit anderen zwingend zu fördern ist.
Diese vier Kompetenzen bilden den Kern der in Schule zu vermittelnden Fähigkeiten und eröffnen – oder fordern gar – zahlreiche Möglichkeiten, digitale Medien in den Unterricht zu integrieren: Kreativität und kritisches Denken sind dort vonnöten, wo digital verfügbares Wissen auf das jeweilige Problemfeld bezogen auszuwählen, zu be- und verarbeiten ist. Findet dies in Arbeitsgruppen statt, sind Kooperation und kommunikativer Austausch gefragt, hier können digitale Medien die Fähigkeiten der Lernenden zur Differenzierung und zur Konzentration auf wichtige Fragen schulen.

Zusätzlich zu den Dimensionen des Wissens und der Kompetenzen zeigen Fadel, Bialik und Trilling, welch große Bedeutung spezifische Charaktereigenschaften haben. Betroffen sind u. a. motivationale Potenziale, Frustrationstoleranz und Resilienz, Kritikfähigkeit, Toleranz und Flexibilität sowie das Vermögen, Verantwortung zu übernehmen. All diese Eigenschaften zielen auf die Ausbildung sozialer und emotionaler Intelligenz und lassen sich in selbstständigen Lernprozessen, Partner- oder Gruppenarbeit unter dem Einsatz digitaler Medien sehr gut schulen.
Die vierte Dimension des Meta-Lernens zielt auf die selbstreflexiven Fähigkeiten, die den Lernprozess hinsichtlich der eigenen Lernziele, -strategien und -ergebnisse begleiten sollten und im späteren Leben jegliche Entscheidungsfindung anleiten. Wo Korrekturbedarf besteht, können Entwicklungspotenziale bewusst werden sowie die lebenslange Unabgeschlossenheit des eigenen Lernens.
Wie lassen sich nun diese vier Dimensionen des Wissens in schulisches Lernen integrieren?

Neue didaktische Methoden

Hier bietet sich ein Blick auf jene vier Methoden an, die Kersten Reich für die inklusive Didaktik entwickelt hat (Reich 2014): Bei der klassischen Instruktion obliegt es den Lehrenden, Möglichkeiten der Wissenspräsentation zu integrieren, die die Schüler/innen aktiv mit einbeziehen (wie z. B. Präsentationen, Partner- oder Gruppenarbeit). In Lernlandschaften (oder Lernbüros, Lernateliers) wird ein selbstreguliertes Lernen allein oder in Arbeitsgruppen ermöglicht, in denen die Schüler/innen je nach Kompetenzstufen mit ausgewählten Lernmaterialien eigene (Lern-)Pläne entwerfen, nach ihrem eigenen Tempo arbeiten und sich selbst kontrollieren. Für den Wahl- oder Wahlpflichtbereich des schulischen Curriculums eignen sich Werkstätten, die den konkreten Praxisbezug der Lern- und Forschungsinhalte ermöglichen, sodass den Schüler/innen Gelegenheit gegeben wird, sich auf eine spätere (Berufs-)Tätigkeit hin zu orientieren. Wie auch im Zuge von Projektarbeit wird dabei der klassische Unterrichtsraum geöffnet und die Integration von Elementen aus der Berufs- und Lebenswelt ermöglicht. Der Schwerpunkt liegt in beiden Fällen auf einer fächerübergreifenden Herangehensweise und der Anwendung verschiedenster theoretischer und praktischer Methoden. Jede der letzten drei Methoden sollte von der individuellen Dokumentation der Lernaktivitäten begleitet werden, um eigenständig oder gemeinsam mit anderen und der Lehrkraft die eigenen Lernerfolge zu reflektieren. Hier kann die Erstellung eines Portfolios sinnvoll sein.

Die neuen Lernformate ermöglichen es den Schüler/innen, individuelle Lernwege zu gehen und das eigene Lernen selbst zu gestalten. Dabei sind die Beratung und das Feedback durch die Lehrenden von immens großer Wichtigkeit. Sie tragen erheblich zum Lernerfolg bei und sollten regelmäßig in der Woche ihren Platz im Schullalltag bekommen. Insgesamt wandelt sich die Rolle der Lehrkräfte zu einer begleitenden und beratenden Funktion. Sie haben die Lernziele individuell anzupassen, Zielvereinbarungen mit den einzelnen Schüler/innen zu treffen, die singulären Lernprozesse sowie die Selbstkontrolle der Schüler/innen anzuleiten und entsprechendes Feedback zu geben. Dies kann nur gelingen, wenn sie in fachübergreifenden Teams arbeiten, um die Lernwege der individuellen Schüler/innen über die einzelnen Fächer hinweg im Blick zu behalten (Kricke/Reich 2016). Diese Bereitschaft zur Kooperation – auch mit der Schulleitung und im Fall ganztägigen Unterrichts mit dem außerschulischem Lehr- und Betreuungspersonal – ist für den Erfolg der Lernenden wichtig.

Generell bieten die neuen didaktischen Methoden und Lernformate nicht nur vielfach Gelegenheit, digitale Medien im Unterricht zu nutzen. Ihr Einsatz ist vielmehr notwendig, um die Lernenden tatsächlich und praxisnah auf das spätere (Berufs-)Leben vorzubereiten. So ist es nahezu geboten, Lernmaterialen in digitaler Form aufzubereiten, um sie für unterschiedliche Lerntypen auf verschiedenen Lernniveaus anzupassen. Fraglos erleichtern digitale Werkzeuge die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden, und der digitale Austausch der Schüler/innen untereinander in kollaborativen Kleingruppen bietet gute Gelegenheiten, die konzentrierte Übermittlung relevanter Informationen einzuüben. Weiter können adaptive Lernsysteme unmittelbar automatisiertes Feedback zu Übungs- und Testaufgaben geben, und die digitale Dokumentation von Lernprozessen ermöglicht es, den Umgang mit Text- und Bildverarbeitungsprogrammen und solchen zur Präsentation einzuüben.

Um insgesamt die Potentiale des Digitalen einzulösen, stellt die Entwicklung einer adäquaten digitalen Infrastruktur an der Schule nur eine Voraussetzung dar. Insgesamt gilt es, Schule und schulisches Lernen generell stärker auf die Möglichkeiten der digitalen Welt auszurichten und zu entwickeln, sie als Ganzes und die Lehrkräfte als Einzelpersonen und Teams in den Blick nehmen (Heinen/Kerres, 2015). Hier ist vor allem die Schulleitung gefragt, ihr obliegt es, das Lehrpersonal entsprechend digitaler Lehr- und Lernformate zu Fortbildungen anzuregen, die Kommunikation der Lehrenden untereinander und mit den Schüler/innen sowie ihre Zusammenarbeit im Team zu fördern und insgesamt an der Schule eine kooperative Atmosphäre zu schaffen. Generell unterstützt ein kommunikativer und kooperativer Führungsstil die Umsetzung digitalen Lernens, ein Führungsstil, der gemeinhin als »Leadership« bezeichnet wird (Köster-Ehling 2018).

Schule in der Digitalen Welt ganzheitlich denken

Der Digitalpakt, der seit 2016 auf der politischen Bühne diskutiert, aber bisher nicht beschlossen wurde, zielt zunächst auf die Verbesserung der Infrastruktur in Schulen. Dabei – wie auch in den einzelnen Bundesländern bei der Umsetzung der KMK-Strategie – besteht jedoch die Gefahr, dass wie in früheren Ausstattungsinitiativen (z. B. ISDN-Internetzugänge, interaktive Whiteboards) die Erwartungen an eine Veränderung im Unterricht und die Förderung der im Digitalpakt benannten Medienkompetenzen im Fachunterricht nicht erfüllt werden. Die wesentlichen Herausforderungen für den Wandel der Schule in der digitalen Welt sind aber pädagogisch, nicht technisch. Die dringend notwendige Integration digitaler Lernmaterialen und -methoden verlangt ein grundsätzliches Umdenken und eine Neugestaltung von Schule und Unterricht. Hier ist auch eine länderübergreifende politische Debatte erforderlich.

Fazit

Die Digitalisierung von Lehren und Lernen stellt keine Gefahr, sondern eine große Chance dar, endlich jene neue Didaktik zu praktizieren, die den Lerninhalten des 21. Jahrhunderts angemessen ist. Will Schule ihrem Bildungsauftrag verantwortlich nachgehen, sollte sie diese Chance nutzen.

 

 

„Weit über den Bildschirm hinaus: Digitales ist ganzheitliches Lernen” von Olaf Köster-Ehling und Richard Heinen ist erschienen in der Zeitschrift SchulVerwaltung spezial 02/2019: Das agile Klassenzimmer  - So einfach schaffen Sie moderne Raumkonzepte und digitalen Unterricht; S.65.

Der Beitrag steht, mit freundlicher Unterstützung des Carl Link Verlags, zum Download zur Verfügung: